Grafik: NABU
Grafik: NABU

Wie eine Naturoase in einer intensiv bewirtschafteten Ackerwüste liegen die Bremgartener Wiesen. 250 Hektar – das entspricht einer Fläche von rund 350 Fußballfeldern – stellen die größte zusammenhängende Flachland-Mähwiese in Baden-Württemberg dar.

Durch die Pacht eines größeren Teil der Wiesen hat der NABU Südbaden endlich die Möglichkeit durch eine naturverträgliche Bewirtschaftung und Pflege die z.T. verlorengegangene Artenvielfalt und wertvolle Lebensräume zurückzuholen und zu sichern.

Den besonderen Wert der größten zusammenhängenden "Flachland-Mähwiese" in Südbaden macht unter anderem die dort vorkommende Vogelwelt aus.
Bilder Fotolia, Adobe Stock, NABU

 

Braunkehlchen und Großer Brachvogel sind leider vor vielen Jahren aus den Wiesen verschwunden. Ein häufiger Brutvogel ist dagegen noch die Feldlerche, die in nahe der Wiese gelegenen Maisfeldern keinen Lebensraum mehr findet.

Ein besonders wertvolle Art ist die Grauammer, die aus vielen Teilen Deutschlands schon verschwunden ist und hier einen der letzten Brutplätze. Auch die Wachtel ruft regelmäßig aus dem hohen Gras und scheint hier zur Brut zu schreiten.
Der seltene Triel brütet ganz in der Nähe und besucht die mageren, steinigen Flächen zur Nahrungssuche.

In der Süddeutschen Zeitung erschien Anfang Juli 2022 ein größerer Artikel in der Süddeutschen Zeitung, den wir hier mit freundlicher Genehmigung der SZ abdrucken.

© Süddeutsche Zeitung GmbH, München.

 

Blühendes Leben auf drei Stockwerken

Von Tina Baier

Magere Wiesen gehören zu den artenreichsten Lebensräumen in Deutschland. Aber die meisten Landwirte düngen, um öfter möglichst eiweißreiches Heu zu ernten. So geht eine uralte Kulturlandschaft verloren – und mit ihr unzählige Tier- und Pflanzenarten

Feldlerchen sind in Deutschland eigentlich selten geworden. Über den Bremgartener Wiesen südwestlich von Freiburg aber schwirren unzählige der im Flug singenden Vögel hin und her und veranstalten einen Höllenlärm. Es klingt ein bisschen, als wollten sie die Menschen unter ihnen verjagen. „Wir müssen jetzt hier mal wieder weggehen“ sagt Bernd Uhlmann vom Naturschutzbund (Nabu) Südbaden. Der Nabu hat 60 Hektar des insgesamt 250 Hektar großen Areals gepachtet. Uhlmann ist dafür zuständig, dass es den Tieren und Pflanzen dort gut geht. Jetzt gerade geht es ihm aber nicht um die schimpfenden Feldlerchen, sondern um eine Grauammer, deren metallisches „tück tück-zik-zik-zkzkzkzrrrr“ er zwischen all den lärmenden Lerchen herausgehört hat.

  Wahrscheinlich ist es ein Männchen, das über seinen Harem wacht: mehrere Weibchen, die auf dem Boden auf ihren Nestern sitzen und brüten. Uhlmann will auf keinen Fall, dass sie gestört werden. Denn die Grauammer ist aus vielen Teilen Deutschlands bereits verschwunden. Die Bremgartener Wiesen sind eines ihrer letzten Brutgebiete. Der eher unscheinbare grau-braune Vogel muss hier in der Nähe sein, gut geschützt von den wuchernden Gräsern und Kräutern.

  Wer von Freiburg aus mit dem Auto zu den Bremgartener Wiesen kommt, fährt durch eine intensiv bewirtschaftete Agrarlandschaft, vorbei an Feldern mit Mais, Weizen und Kartoffeln. Bei der Ankunft hat man das Gefühl, plötzlich in der Wildnis zu stehen. Doch der Eindruck trügt: Wiesen sind keine Wildnis, sondern ein menschengemachter Kulturlandschaftslebensraum.

  Als die ersten Menschen vor etwa 7500 Jahren nach Mitteleuropa einwanderten, brachten sie ihr Vieh – Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine – mit und ließen die Tiere in den Wäldern weiden. Wo die Tiere grasten, kamen keine Bäume mehr hoch, sodass die mit Wald bedeckte Landschaft nach und nach offener wurde. Im Winter wurde das Vieh mit dem Laub von Eschen, Linden und Ulmen gefüttert. Vermutlich war es irgendwann in der Eisenzeit zwischen 800 vor Christus und Christi Geburt, dass die Menschen auf die Idee kamen, bestimmte Areale in der Nähe ihrer Dörfer einzuzäunen, damit die frei herumwandernden Tiere dort nicht weiden konnten. Diese ersten Wiesen wurden regelmäßig gemäht, um einen Heuvorrat als Futter im Winter anzulegen. „Aber erst mit Beginn der Neuzeit fanden die Wiesen größere Verbreitung“, sagt Peter Poschlod, Professor für Ökologie und Naturschutzbiologie an der Universität Regensburg. „Im 19. Jahrhundert gab es sogar Wiesenbau-Schulen und den Beruf des Wiesenbaumeisters.“

  Archäologische Funde von Pollen und Pflanzen lassen noch heute Rückschlüsse darauf zu, wo früher Weide war und wo Wiese. Auf den Weiden ließen die Tiere bestimmte Pflanzen stehen, die sich dadurch vermehren konnten. Disteln beispielsweise, die zu stachelig zum Fressen sind, bittere Enziane oder giftige Arten wie die Wolfsmilchgewächse. Typische Heuwiesen-Arten sind dagegen Glatthafer, Bärenklau und Pippau. „Dass viele Wiesenpflanzen ursprünglich aus dem Wald stammen, erkennt man bei manchen Arten heute noch an ihrem Namen“, sagt Poschlod. Die Wald-Engelwurz wäre ein Beispiel dafür oder der Wald-Storchschnabel..

  Wie alle Wiesen muss auch das riesige Areal bei Freiburg regelmäßig gemäht werden, um die charakteristische Flora und Fauna zu erhalten. „Auf den meisten Wiesen, die nicht mehr vom Menschen bewirtschaftet werden, wachsen zunächst Sträucher und dann Wald“, sagt Poschlod. „Das geht erstaunlich schnell und dauert nur zehn bis zwanzig Jahre.“ Uhlmann lässt das vom Nabu gepachtete Areal zweimal im Jahr mähen, das erste Mal nicht vor Mitte Juni. Bis dahin haben die typischen Wiesenpflanzen alle geblüht. Die Samen der Gräser hat der Wind verteilt, und die Blütenpflanzen sind von Tieren bestäubt worden. So können sich alle Wiesenpflanzen vermehren und im kommenden Frühjahr erneut hervorkommen. Auch der Nachwuchs der Wiesenbrüter – der Feldlerchen, der Grauammern und der Wachteln – ist dann längst geschlüpft. „Wir versuchen, das untere Stockwerk bei der Mahd zu verschonen, damit sich die Insekten dort halten können“, sagt Uhlmann. Er arbeitet nur mit Bauern zusammen, die einen sogenannten Balkenmäher verwenden. Durch die Erschütterungen, die das Gerät verursacht, bemerken die meisten Tiere die Gefahr rechtzeitig und schaffen es zu fliehen.

  „In einer mageren oder zur Heugewinnung zweimal gemähten Wiese findet man so viele verschiedene Pflanzenarten wie in kaum einem anderen Lebensraum in Mitteleuropa“, sagt Peter Poschlod. Zwischen 50 und 100 verschiedene Spezies können es sein, manchmal sogar mehr. In besonders artenreichen Wiesen wachsen im Extremfall bis zu 80 Pflanzenarten auf einem Quadratmeter.

  Doch solche Wiesen sind bedroht, ebenso wie viele andere traditionelle Kulturlandschaften. Noch in den 1950er-Jahren gab es 3,5 Millionen Hektar Wiesen in Deutschland, die meisten artenreiche Heuwiesen. „Etwa 90 Prozent davon sind heute verschwunden“, schätzt Poschlod. Genaue Statistiken dazu gibt es nicht.

  Ein Teil der Bremgartener Wiesen ist als Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (FFH-Gebiet) eingestuft und steht unter besonderem Schutz. Gleich beim Betreten des Areals, das offiziell ein Lebensraumtyp 6510 ist, also eine „Magere Flachland-Mähwiese“, fallen Uhlmann mehrere pinke Blüten auf. Die Pyramidenorchis Anacamptis pyramidalis wächst hier, als sei das nichts Besonderes. Dabei ist die Orchidee sehr selten und gefährdet. Eine Turteltaube ist zu hören. Die Art ist stark gefährdet, ihr Bestand ist in den vergangenen zwölf Jahren um mehr als 40 Prozent zurückgegangen. Die gurrende Turteltaube ist gesund aus Afrika zurückgekehrt, wo die Vögel den Winter verbringen. Auch der Orpheusspötter ist wieder da aus Afrika, er plaudert und pfeift. Es sind solche Arten, die bevorzugt im Agrarland leben, die besonders häufig auf den Roten Listen gefährdeter Arten auftauchen. Denn sie sind auf einen intakten, komplexen Lebensraum angewiesen, den es so immer seltener gibt.

  Wer von oben auf die Bremgartener Wiesen schaut, etwa vom Tower des Flugplatzes Bremgarten aus, blickt über ein wogendes Meer aus Gräsern, die alle ungefähr gleich hoch zu sein scheinen. Erst wenn man wieder unten ist und genau hinschaut, erkennt man, dass die Wiese verschiedene Stockwerke hat. „So wird das Licht, das die Pflanzen brauchen, optimal ausgenutzt, und die Feuchtigkeit bleibt erhalten“, sagt Uhlmann.

  Am höchsten wachsen die Obergräser: Glatthafer, aber auch Knaulgras und Honiggras, das vermutlich so heißt, weil es süß schmeckt. In der Mittelschicht wachsen viele Blütenpflanzen, die Vogelwicke zum Beispiel, Hahnenfuß und Margariten, aber auch das Ruchgras. „Das macht den Geruch der Wiese aus“, sagt Uhlmann. Ganz unten, auf den ersten zehn Zentimetern, wachsen kleine Arten wie Kriechender Günsel, Hornkraut und Ehrenpreis. Die kommen im Frühjahr als Erstes, bilden schnell Samen und werden später von höher wachsenden Gräsern überdeckt.

  So sahen bis Ende der 1960er-Jahre auch fast alle Wiesen aus, die von Milchbauern bewirtschaftet wurden, um dort Futter für ihr Vieh zu produzieren. Dann kam der große Umbruch. Mineralischer Dünger wurde billig, und die Landwirte fingen an, ihre Wiesen zu düngen. Statt zweimal im Jahr wurde fünf- bis sechsmal gemäht, im Extremfall bis zu zehn Mal. Die gedüngten Wiesen liefern bis heute sehr eiweißreiches Futter, mit dem die Kühe besonders viel Milch produzieren können – bis zu 30 Liter am Tag.

  Wie Dünger eine Wiese verändert, lässt sich auf einem Teil der Bremgartener Wiesen besichtigen, der gedüngt wurde und den der Nabu renaturieren will. Stockwerke gibt es dort keine mehr. Zwei Arten dominieren: Glatthafer und vor allem Knaulgras, dazwischen weiche Trespe, die irgendwann eingesät wurde, weil sie ein gutes Futtergras für die Kühe ist. „Hier wachsen maximal fünf bis sieben Arten“, sagt Uhlmann. Blütenpflanzen aus der Mittelschicht sucht man vergeblich. Unter anderem deshalb hat dieser Bereich keinen FFH-Status, obwohl er ebenfalls unter strengem Naturschutz steht. Doch sogenannte Kennpflanzen wie Wiesen-Salbei, Sauerampfer, Flockenblume, Margarite, Wiesen-Bocksbart und Kleiner Wiesenknopf, die für die FFH-Einstufung nachgewiesen werden müssen, sucht man hier vergeblich.

  Sarah von Adelmannsfelden, die an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Umweltnaturwissenschaften studiert und für ein Projekt nach Insekten, vor allem Wildbienen sucht, findet in diesem Teil der Bremgartener Wiesen: nichts. In den intakten Bereichen tobt dagegen das Insektenleben. Erdhummeln gibt es hier, die Braunfleckige Beißschrecke, den Schachbrettfalter, die Grüne Strandschrecke, das Große Ochsenauge, die Blauflügelige Ödlandschrecke und das Kleine Wiesenvögelchen, das kein Vogel ist, sondern ein Schmetterling. Gottesanbeterinnen scheint es auch zu geben. Das beweist ein etwa fünf Zentimeter langer Kokon, den Sarah von Adelmannsfelden findet. Die als gefährdet eingestuften Insekten tarnen sich als Blätter und lauern in der Dämmerung Heuschrecken, Grillen und Waldschaben auf.

  Uhlmann würde das vom Dünger geschädigte Gebiet gerne renaturieren und den FFH-Status dafür bekommen. Anders als in den intakten Bereichen müsste er hier dafür öfter und früher mähen. Nur so ließen sich dem Boden nach und nach die Nährstoffe entziehen. Das darf er aber nicht, weil die Naturschutzbestimmungen das verbieten. Der Naturschutz steht sich selbst im Weg.

  „Die Überdüngung der Wiesen ist einer der Gründe für das Insektensterben“, sagt Poschlod. „Speziell für den Schwund der Bestäuber.“ Wildbienen, Schwebfliegen und Schmetterlinge finden auf den intensiv bewirtschafteten Wiesen schlicht keine Nahrung. Besonders gefährdet sind Arten, die sich auf eine bestimmte Pflanze spezialisiert haben. Der Wiesenknopf-Ameisenbläuling etwa legt seine Eier nur auf den Großen Wiesenknopf. Verschwindet die Pflanze – oder die Rote Knotenameise, in deren Nestern sich die Schmetterlingsraupen parasitär großziehen lassen –, überleben auch die Schmetterlinge nicht. Ein anderes Beispiel ist der Regensburger Gelbling, der seit einigen Jahren als ausgestorben gilt. Grund ist der starke Rückgang des Regensburger Geißklees, auf den der Schmetterling seine Eier legte.

  Auch der Rückgang vieler Wiesenbrüter hängt mit der intensiven Bewirtschaftung für eiweißreiches Futter zusammen, das oft zu Silage vergoren wird. „In einer Silage-Wiese brütet niemand mehr“, sagt Poschold. „Wenn man da bis zu zehn Mal drüberfährt und mäht, überlebt kein Vogel, kein Jungvogel und schon gar kein Gelege.“ In den Bremgartener Wiesen haben Feldlerchen, Grauammern und Wachteln einen Rückzugsort gefunden. Sogar der seltene Triel, ein merkwürdiger, fast hühnergroßer Vogel mit riesigen gelben Augen, brütet in der Nähe.

  Uhlmann hat noch viel vor: Er will den Großen Brachvogel mit seinem langen gebogenen Schnabel zurückholen, der hier seit 2006 verschwunden ist. Und das Braunkehlchen. Neulich hat er eines entdeckt, das dann aber leider weitergezogen ist. Er würde gerne Führungen für Schulklassen machen, damit die Kinder sehen, wie artenreich eine Wiese sein kann, und begreifen, dass man sie schützen muss. Und er würde gerne Frieden mit den Bauern aus der Umgebung schließen und sie überzeugen, dass die Wiesen mitten in ihrem Revier eine vom Untergang bedrohte Landschaft sind, die auf den Menschen angewiesen ist, um zu überleben.

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